#ausliebe: 175 Jahre Diakonie
„Rabe, (von Beruf) Säger, Witwer, Grützmachergang. Frau an der Cholera gestorben. Fünf Kinder (eins im Waisenhaus), vier zu Haus. Der Vater wünscht einen netten, 6-jährigen Sohn los zu sein. Die Mutter hielt die Kinder absichtlich vom Lernen ab, wie die Nachbarn ausführlich erzählten und ließ dieselben Mädchenkinder warten, um so Geld zu verdienen. Der Vater bestätigt alles, nicht auf Frage, sondern freiwillig.“
(J.H. Wichern, sämtliche Werke Band 4/I, Seite 19)
Wir sind in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts, genauer im Jahr 1832. Der junge Hamburger Theologe Johann Hinrich Wichern hat seine erste Stelle angetreten an einer Sonntagsschule in Hamburg. Hausbesuche im von Armut geprägten Stadtteil St. Georg bringen ihn in Kontakt mit den Lebensverhältnissen der Menschen. Was er dort erlebt geht ihm unter die Haut. Seine Eindrücke hält er in einem Buch fest: Seiten über Seiten mit Notizen zu Menschen in prekären Lebensverhältnissen – so wie die über den Familienvater Rabe, der als Säger arbeitet und für fünf Kinder aufkommen muss, von denen er eines bereits abgegeben hat.Es sind Eindrücke und Begegnungen wie diese, die in den folgenden Jahren nicht nur für Wichern selbst, sondern für einen großen Unterstützungskreis und eine Reihe von Mitstreitenden zum Auslöser einer kirchlichen Erneuerungsbewegung werden, die für sich die soziale Arbeit als genuinen kirchlichen Auftrag erkannt hat.
Bereits 1833 gründet Wichern in Hamburg ein – wie es damals hieß – Rettungshaus für Kinder in der ehemaligen Bauernkate Rauhes Haus vor den Toren Hamburgs, in das er selbst und später auch seine Frau Amanda Böhme miteinzogen. In familienähnlichen Verhältnissen sollten die Kinder fortan eine christliche Erziehung bekommen und auf ein späteres Berufsleben vorbereitet werden. Als die Zahl der Kinder wuchs, suchte Wichern Gleichgesinnte zur Mitarbeit. Sie redeten einander als Bruder an und bildeten den Grundstein für die spätere Diakonenschaft.
Die Diakonie hat viele Mütter und Väter. Das Jubiläum 175 Jahre Diakonie, das wir in diesem Jahr begehen, macht sich fest an dem ersten Schritt hin zu einer gemeinsamen Organisation der verschiedenen diakonischen Aktivitäten in ganz Deutschland: der Gründung des Centralausschusses für Innere Mission im Rahmen des Kirchentags in Wittenberg vom 21.- 23. September 1848.
Gezielt nutzte Wichern diese Versammlung führender Kirchenvertreter und engagierter Christenmenschen, um mit einer Rede vor der Versammlung dafür zu werben, sich als Kirche ausdrücklich zu dieser Arbeit zu bekennen und sie als gleichwertigen kirchlichen Auftrag anzuerkennen. Dabei prägt Wichern für die Kirche die Formulierung: „Der Glaube gehört mir wie die Liebe.“
In der Folge entstehen weitere regionale Ausschüsse für Innere Mission, die heutigen diakonischen Landesverbände. Gleichzeitig breitet sich die diakonische Arbeit weiter aus. Und bei aller Unterschiedlichkeit gibt es etwas Gemeinsames: dass Menschen sich immer wieder ansprechen lassen von der Not anderer und gemeinsam mit Gleichgesinnten aus Kirche und Gesellschaft aktiv werden – aus der Motivation heraus, der Liebe Gottes zu den Menschen in ihren jeweiligen Lebensverhältnissen konkret Gestalt zu geben.
Wenn wir in der Diakonie in diesem Jahr das Jubiläum 175 Jahre Diakonie begehen, erinnern wir daran, dass es zum Wesen der Diakonie gehört, sich immer wieder den jeweils aktuellen sozialen Herausforderungen zu stellen. Und wir vergewissern uns unseres Auftrags, auch für die Zukunft nach Lösungen zu suchen, die allen Menschen in einer sich verändernden Welt ein Leben in gerechter Teilhabe ermöglichen.
Landespastor Paul Philipps